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Mein Leben ist wie ein Baukasten

Biografisch orientiertes Unterrichtsprojekt mit benachteiligten Jugendlichen
(in: KUNST + UNTERRICHT/ Heft 223/ 224 – Juni/ August 1998,
hier überarbeitet)

 

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Ein Haus bauen, die Persönlichkeit oder eine Existenz aufbauen, sich konstruktiv verhalten, Lernbaustein, Gedankengebäude, ein Bild konstruieren, sein Leben gestalten – das sind einige Begriffe und Wendungen, die auf etymologische und allgemeine Verständniszusammenhänge zwischen existenzieller Sicherheit, Wohnen, Lernen, Bildung, Wissenschaft und Kunst verweisen.

Darüber hinaus ist ein Wirkungszusammenhang angesprochen, der das Leben des Einzelnen so oder anders beeinflussen kann. Weitgehend ausgeschlossen von einer positiv wirkenden Teilhabe sind Randgruppen, deren existenzielle Sicherheit immer wieder erschüttert oder in Frage gestellt wird.

Geringverdienende, Arbeitslose, Abgesonderte, Zugewanderte, aus Kriegsgebieten Geflohene – an den Rändern der Gesellschaft spielt sich das Leben zwischen anderen Eckdaten ab, als in deren Mitte.

Für Heranwachsende in diesem Sozialisationsfeld sind Entwicklung und Aufbau konstruktiven Sozial-, Lern- und Leistungsverhalten erschwert.

Ihr Erfahrungshintergrund, der bestimmt ist durch Entfaltungseinschränkungen und dem Nichtbestehen gegenüber gesellschaftlichen (schulischen) Erwartungen, führt beinahe zwangsläufig zu negativer Weltsicht, Gleichgültigkeit, Resignation und  Verhaltensauffälligkeiten. Viele dieser Kinder und Jugendlichen scheitern in den allgemeinen Schulen und besuchen Förderschulen.

Zentrale Fragen für den Unterricht mit benachteiligten Kindern und Jugendlichen sind:

Lassen sich stigmatisierende Auswirkungen eindämmen? Können verlorengegangene, ungenügend vorhandene oder noch nie erlebte Sicherheiten ersetzt oder ausgeglichen werden? Welche Voraussetzungen lassen sich schaffen, um positive Einstellungen zu sich selbst, zu anderen und zum Lernen zu entwickeln? Welches Wissen, welche Orientierung, welche Handlungsstrategien sind zu vermitteln, um ein aktives und kreatives Leben zu ermöglichen? 

Antworten auf diese Fragen zu finden, kann vielleicht am ehesten in Unterrichtsprojekten versucht werden, in denen die Lebenswirklichkeit, die Lebensgeschichten der Jugendlichen und ihr altersspezifisches Bemühen um Selbstfindung in den Mittelpunkt gerückt werden.

Für den eigenen Unterricht gründeten die Überlegungen in der Vorstellung, dass jeder Mensch (auch) Inszenator seines Lebens, zum Gestalter seines Selbst und seiner Biografie wird.

Damit zusammenhängend spielten Einsichten mit, die in der künstlerischen Arbeit (besonders in der Auseinandersetzung mit der eigenen Person) gemacht wurden: Der künstlerische Prozess kann als existenzielle Energiequelle wirken, und künstlerische Arbeit kann so etwas sein, wie ein Übungsfeld für das Leben.

So gesehen könnten ästhetische Projekte für benachteiligte Jugendliche – wenn es darin um sie selbst geht – die Bedeutung kompensatorischer Bausteine bekommen, die das Selbstbewusstsein stärken, Verluste ausgleichen und Auswirkungen eines unterprivilegierten Lebens und geringer gesellschaftlicher Anerkennung mildern, möglicherweise zu deren Überwindung beitragen.

Am Unterrichtsprojekt, das hier vorgestellt wird, waren Jugendliche türkischer, vietnamesischer, italienischer, portugiesischer, mazedonischer, griechischer, eritreischer und deutscher Herkunft in Abschlussklassen der Förderschule beteiligt.

Kurze Beschreibung der Arbeitsschritte:

  1. Abnehmen einer Gipsbinden-Maske vom eigenen Gesicht.
  2. Nach Aushärtung befestigen auf einer Holzverbundplatte.
  3. Ausstopfen mit zerknülltem Zeitungspapier.
  4. Plastisch ergänzen (Frisur) mit Moltofill, evtl. auch Kunsthaar.
  5. Bemalen mit Acrylfarben
  6. Weitere Details hinzufügen (Brille, Schmuck, Textilien)
  7. Vervollständigen der Platte zu einem Kasten.
  8. Um das zentrale plastische Selbstportrait Gruppierung von kleineren Bildkästen,
    in denen Ereignisse des bisherigen Lebens und/ oder Ausblicke in eine mögliche
    Zukunft dargestellt werden (mit Figuren aus Metalldrückfolie, bemalt).
  9. Eine weitere Möglichkeit ist die Installation eines Audio-Abspielgeräts (Hörcollage
    über das eigene Leben aus Sprache, Geräuschen, Musik.
  10. Evtl. Anfügen eines Heftes/ Buches mit eigenen Texten und Illustrationen

Wie eine Biografie gleichsam aus Bausteinen entsteht, so wurden die verschiedenen Bildkästen, Texte, Drucke u. a. zu einem Ensemble der prägenden Ereignisse kombiniert. Sie konnten, entsprechend einer sich ändernden Sicht oder einer möglichen Bedeutungsänderung variiert oder auch wieder entfernt werden.

Dabei lagen – entgegen dem üblichen sonderpädagogischen Prinzip der sog. kleinen Schritte – die deutlichen Chancen für Lernprozesse in der Komplexität und im offenen Zeitrahmen, in dem die Bildobjekte entstanden:

Von negativer Stigmatisierung hin zu allmählich befreiender Selbstreflexion, zu anteilnehmender, verständnisvoller Zusammenarbeit in der Gruppe und zum Erkennen des jeweils Einzigartigen in den Lebensbildern.

Das Entstehen von Fragen nach (zeit)geschichtlichen, geografischen, kulturellen und religiösen Bedingungen. 

Zwei Beispiele:

Michalis hatte sich, aufgrund tragischer Ereignisse in seinem bisherigen Leben, nach außen hin völlig abgeschlossen und sprach nichts mehr. Bemühungen in einer Schule für Erziehungshilfe und einer Sprachheilschule waren erfolglos geblieben. Auch in der Förderschulklasse verhielt er sich zunächst zurückgezogen, beteiligte sich dann aber doch am Projekt, fand beim Bauen an seinem Selbstbild das Interesse der anderen Jugendlichen und fand schließlich auch seine Sprache wieder.

Selamawit, ein Mädchen aus Eritrea, war als Kleinkind von ihrer flüchtenden Mutter  im Sezessionskrieg verlassen worden. Nach Jahren mit mehreren Zwischenstationen kam sie in unsere Schulklasse. Wegen ihrer unberechenbaren Aggressionsschübe war sie zunächst ein Problem für die anderen Jugendlichen. Beim Bauen ihres Selbstbildes änderte sie allmählich ihr Verhalten. Ungewöhnlich sprachbegabt, schrieb sie einen langen Lebensbericht und formte daraus später ein Gedicht. Eine verworrene Biografie begann sich zu ordnen. Aus traumatisierenden Erinnerungsfragmenten waren überschaubare Bausteine geworden.

Zeichnen, Malen, Schreiben, Drucken, Formen, Bauen und Konstruieren als Prozesse der Selbstinszenierung – der Anlass dazu waren Erinnerungen, Erfahrungen und Träume. Es entstanden Möglichkeiten der Auseinandersetzung und Bearbeitung, in denen sich ein neues Bewusstsein über die eigene Wirklichkeit und Selbstveränderung anbahnen konnten, etwa in dem Sinne: Ich kann mich und die anderen jetzt anders sehen, ich kann mich dadurch anders verhalten.

Die Erfahrung, dass nichts festgeschrieben und kein Mensch bedeutungslos ist, dass es Chancen gibt zu Veränderungen der eigenen Person und des sozialen Umfeldes, kann ein Fundament sein, auf dem sich weiter bauen lässt. Es ist die Voraussetzung, damit auch benachteiligte Jugendliche mit einem Mindestmaß an guter Hoffnung in ein Leben nach der Schulzeit eintreten können.

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft zeichnete das Unterrichtsprojekt 1988 mit dem „Georg-Tappert-Preis“ aus.