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Da wuchsen uns Flügel

Unterrichtsprojekt in der Oberstufe der Förderschule
(in: KUNST + UNTERRICHT/ Sammelband 2000, Lernchancen im Kunstunterricht, 
hier überarbeitet und gekürzt)






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Ausgangspunkt für das Unterrichtsprojekt war die Zeichnung (Lithografie) eines Jugendlichen aus einer früheren Klasse: Die erträumte Flucht mit dem Ballon aus der Mathestunde.

Träume vom Fliegen – erzählt, aufgeschrieben, gezeichnet, gemalt, in Objekten dargestellt – welche Sehnsüchte, welche Hoffnungen finden darin ihren Ausdruck?

In der Betrachtung von Bildwerken aus unterschiedlichen Zeiten und Kulturen wurde den Jugendlichen deutlich, dass sie mit ihren Träumen und Darstellungen Anteil an einem alten Menschheitstraum hatten: Sich beflügeln zu lassen, sich frei wie ein Vogel in die Lüfte zu erheben und forttragen zu lassen, den Unzulänglichkeiten des Lebens zu entfliehen, zu entfliegen – aus der Flucht einen Flug in bessere Gefilde werden zu lassen.

Zwar faszinierten die Vorstellungen der frühen Flugpioniere, z. B. der Vergleich zwischen Leonardo da Vincis Entwürfen und den ersten realisierten Konstruktionen Otto Lilienthals, dennoch war das Interesse der Jugendlichen eher von Fragen geleitet, die durch ihre eigenen Arbeiten und durch die Beschäftigung mit der Sage „Dädalus und Ikarus“ in den Blick gekommen waren:

-  Hat der Traum vom Fliegen etwas zu tun mit der Sehnsucht nach Freiheit?

-  Wie kommt es, dass die Wörter fliehen und fliegen einander so ähnlich sind?

War eine Antwort in den Biografien von Menschen zu finden, die sich künstlerisch  oder technisch mit Flugobjekten beschäftigt hatten. Wir wählten unter diesen Leonardo da Vinci, Kaspar Mohr, Albrecht Ludwig Berblinger, Graf Zeppelin und Gustav Mesmer aus.

Alle diese Menschen hatten ganz unterschiedliche Lebensgeschichten. Aber alle hatten sich mit dem Fliegen beschäftigt. Waren deshalb auch Gemeinsamkeiten zwischen ihnen festzustellen?

Trotz aller Verschiedenheit ließ sich Vergleichbares in den Lebensbedingungen  entdecken: Abhängigkeit von anderen, Einsamkeit aufgrund von mangelnder Anerkennung, nicht realisierbare Lebensvorstellungen, Unfreiheit…

Damit wurden für die Jugendlichen weitergehende Fragen möglich:

Hat das Leben dieser Menschen etwas mit uns zu tun?

Was ist für uns einengend und bedrückend?

Wonach sehnen wir uns?

In dieser Phase konnte die Schulklasse eine Ausstellung im Landesmuseum für Technik und Arbeit in Mannheim besuchen, in der Flügelräder, Flugapparate und andere Arbeiten von Gustav Mesmer gezeigt wurden.

In seinen Arbeiten sahen die Jugendlichen Parallelen, Übereinstimmungen und Beziehungen zu ihren eigenen Fantasien. Sie zeichneten in der Ausstellung ab, erfanden Varianten oder Neues hinzu: Skizzen für Apparate, die wie bei Mesmer nie den Boden der Tatsachen verlassen würden, wohl aber Geist und Seele abheben lassen können – Bilder anderer Möglichkeiten, in denen sich eine Ahnung von Unabhängigkeit und Freiheit andeutet.

Anschließend wurde in der Museumswerkstatt gemeinsam eine bewegliche Figur entwickelt, an der das deutlich werden sollte: Der Flugversuch bleibt vergeblich, aber das Abheben wird vorstellbar.

Nach dem Vorbild dieses „Prototyps“ stellte jede Schülerin/ jeder Schüler in den nachfolgenden Tagen eine eigene Figur her (z. T. mit vorgefertigten Elementen).

Alle Arbeitsergebnisse – Texte, Bilder, Objekte, eines davon in Lebensgröße – konnten, sozusagen als Ausstellung nach einer Ausstellung – im Landesmuseum für Technik und Arbeit präsentiert werden.

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft zeichnete das Projekt 1992 mit dem „Georg-Tappert-Preis“ aus.

Zum 90sten Geburtstag Gustav Mesmers, am 16. Januar 1993, wurden die Arbeiten der Jugendlichen im Festsaal des Altenheimes im Münsinger Ortsteil Buttenhausen ausgestellt. In der Schuldruckerei hatten sie Plakate dafür gedruckt, und sie hielten eine Geburtstagsansprache.

Das alles brachte den Jugendlichen große Anerkennung – etwas, das sie bisher kaum erlebt hatten. Angelo äußerte sich zu dieser Erfahrung: „Wenn man geehrt wird, dann ist das, als würde man Flügel bekommen“.

 

Plakat für die Ausstellung zu Gustav Mesmers 90. Geburtstag
Klasse 9 / Schuldruckerei / 1993